Ein Mal (weg aus) Rumänien – und zurück

Mein Vater floh Rumänien ein Mal und wurde wieder “eingefangen”. Das war kurz bevor das kommunistische Regime fiel, etwas das er nicht wissen konnte, dass es so bald passieren würde. Er riskierte alles, um aus diesem Land zu entkommen. Das ist mir sehr bewusst.

Nach dem Fall des Regimes konnte er offiziell auswandern. Es war trotzdem nicht leicht, aber er schaffte es. Meine Mutter, meinen Bruder und mich holte er ein Jahr später zu sich nach Österreich, als er es geschafft hatte sich halbwegs eine Existenz aufzubauen. Ich war damals 8 Jahre alt. Über diese enorme Anstrengung und ihre Hürden erzählt er oft und hat es auch niedergeschrieben, doch das ist nicht, worüber ich hier erzählen möchte.

Ich wohne jetzt seit 3 Jahren wieder in Rumänien – mein Weggehen 2021 war für viele überraschend. Noch überraschender war, dass ich hier blieb. Und über einige der Einsichten und Erfahrungen, die ich seitdem hier gemacht habe, möchte ich heute schreiben.

Wenn meine Eltern vom “alten” Rumänien sprachen, betonten sie wie widerwärtig sie es fanden, dass man hier nur leben konnte, wenn man sich durchschummelte. Alles funktionierte nur “unter der Hand” mit Bestechung und rumänisch “Pile“, was wörtlich übersetzt Feilen heißt, sich aber auf die Art bezieht, etwas zu erhalten, indem man irgendeinen Bekannten (eines Bekannten) in der richtigen Stelle hat.

Um etwas zu erhalten, wofür man sonst in einem bürokratischen Meer zu ertrinken drohte oder das es schlicht auf offiziellem Weg nicht gab, versuchte man es gar nicht erst auf dem “offiziellen Weg”. Egal ob man eine staatlich geförderte Wohnung bekommen, oder ein paar Schuhe kaufen wollte. Man erreicht es am besten durch “Vitamin B”, wie es in Österreich heißt, oder eben “Pile” (Feilen) in Rumänien. Mit einer Feile kann man raue Kannten glätten, oder eben das allzu kratzige System.

Meine Eltern wollten diese Herangehensweise des Durchschummelns nie akzeptieren. Verständlich, denn wenn man mit einem Sinn für Gerechtigkeit und Korrektheit aufgewachsen ist, muss man mit einer Art von Schuldgefühl zurechtkommen, das sich unweigerlich mit dieser Zugangsweise einstellt und das sehr unangenehm sein kann. Das Gewissen sagt einem sehr klar: Es ist nicht richtig, dass du etwas bekommst, das jemand anderer nicht haben kann. Es ist nicht korrekt, dass du schummelst. Es ist FALSCH. Doch das System zwang einen dazu. Man konnte nicht korrekt sein, denn dann bekam man nichts, erreichte nichts und durfte nichts. Und man sah jeden Tag, dass nur jene die tricksten, logen und schummelten weiter kamen. Je unmoralischer sie sich verhielten, desto besser ging es ihnen. Spezielle Belohnungen gab es für jene, die ihre Nachbarn ausspionierten und denunzierten, der “Partei” beitraten und im Rahmen dieser noch mehr stahlen und betrügten. Denen ging es besonders gut. Man wurde also für das belohnt, was man normalerweise heute also unmoralisch und asozial bezeichnen würde.

Wie viel hat sich seitdem in Rumänien verändert? So einiges, dachte ich, denn immerhin ist Rumänien seit vielen Jahren schon in der europäischen Union und seit mehr als 30 Jahren schon hat jenes tyrannische Regime nicht mehr das sagen.Ich kam nach Rumänien um es selbst zu sehen, vor allem um es mit anderen Augen zu sehen. Ich hatte oft den Eindruck, dass der Blick der Menschen die Rumänien nie, oder nur im Urlaub verlassen haben, doch noch immer ziemlich verklärt ist, was “den Westen” betrifft. Sie, die nie dauerhaft im Westen gelebt haben, können nicht wissen, dass die Bürokratie auch dort mühsam ist, dass die Beamten auch dort den Menschen oft unnötig das Leben schwer machen und dass “Ordnung und Sauberkeit”, davon kommt, dass sich alle, oder zumindest fast alle an gewisse Regeln halten und zwar freiwillig. Allzu gerne schreit der Rumäne nach “härteren Strafen”, umso drakonischer, desto effizienter, glaubt er, ohne zu bemerken, dass Strafen allein nichts bringen und bloße Strafandrohungen schon gar nicht – das ist im Übrigen genau die bevorzugte Taktik der rumänischen Legislative/Judicative/Executive – man macht Gesetze, die streng scheinen, bei der Anwendung ist man aber schon extrem nachlässig und wendet die Gesetze auch nicht auf alle an, sondern nur auf manche (wie im Kommunismus), denn auf andere kann man es sich “nicht leisten” sie anzuwenden (Achtung Mafia) und wenn man sie anwendet, wendet man sie falsch an, denn das Verständnis von Gesetzestexten lässt auch so einiges zu wünschen übrig. Soll heißen, man wendet frei nach eigenem “Empfinden” und mehr nach “Hörensagen”, an, als dass man tatsächlich die Gesetze kennen würde. All diese Erfahrungen habe ich in Rumänien entweder selbst gemacht oder direkt von Betroffenen erzählt bekommen. So musste ich feststellen, dass es leider oft immer noch so ist wie in längst vergangenen Tagen. Ich kann es schwer direkt mit den 70er und 80er Jahren oder gar mit der Zeit davor vergleichen, denn damals war ich noch nicht geboren, oder noch viel zu jung um es wahrzunehmen, doch mein Instinkt sagt mir, es muss ungefähr so wie heute gewesen sein, nur mit einem Hauch mehr Willkür, Rohheit und Dilettantismus.

Rumänien ist leider immer noch ein Land, wo sich jeder der kann am Öffentlichen Gut bedient und sich die Taschen füllt bevor er unweigerlich “erwischt” wird. Meistens auch nur deshalb weil ihn ein anderer auffliegen lässt, der auch nehmen wollte und nicht konnte solange sich der erste bediente. Wenn jener also dann beim stehlen erwischt wird, flieht er. Möglichst weit weg, auf eine Insel, die schwer zugänglich ist, oder in ein Land wo man sich mit all dem gestohlenen Geld alles kaufen kann, inklusive Justiz und Polizei. Dann wird man nicht nach Rumänien ausgeliefert. Nach nur wenigen Jahren verjährt der Betrug, denn man hat sich die Gesetze früh genug, als man die Gelegenheit dazu hätte, zurecht gelegt – schließlich sind die, die am meisten und am häufigsten stehlen hohe Politiker. Man hat also einige Millionen, vielleicht sogar einige Hunderte Millionen und ist nun “Geschäftsmann”. Man wird sogar heimlich oder weniger heimlich von vielen Mitbürgern dafür bewundert. Denn tatsächlich sind immer noch so viele Rumänen daran gewöhnt in diesen Mustern zu denken, dass man andere auch für geschickt angelegten Betrug bewundert: “Schau, der hat es geschafft. Der hat gewusst, wie man es angehen muss. Ein gemachter Mann.” Dass der, den sie bewundern dabei aus ihren eigenen Taschen gestohlen hat, merken sie nicht, denn sie glauben, das Geld kam sowieso “von der EU/ vom Staat”. Aber die gestohlenen Güter sind die Straßen, das Kanalisations- und Frischwassersystem, die Krankenhäuser und Schulen, die nie gebaut, renoviert oder in Stand gesetzt wurden, wie es das finanzierte Projekt am Papier vorsah. Dann rinnt das Wasser immer noch aus den defekten Leitungen auf die Straße, während einem selbst das Wasser täglich abgedreht wird, man riskiert immer noch sein Leben auf den Landstraßen, auf denen im Ortsgebiet “mangelns Autobahnen” mit 100 km/h gefahren wird (“was soll man sonst machen”, sagen sie), wo es an jeder Kreuzung und alle paar Hundert Meter Kreuze im Gedenken an die Verkehrsopfer gibt, die dort ihr Leben gelassen haben.

Viel zu wenige Menschen sehen das, oder vielleicht sehen sie es doch sie wollen es nicht sehen und schauen weg. Aufregen bringt ja doch nichts, warum sich das Leben schwer machen. “Die da oben machen ja doch was sie wollen”, sagen sie.

Nie wurden irgendwelche Rechte erlangt, in keinem Land dieser Welt, ohne dass die Menschen dafür gekämpft haben, sage ich.

Heute könnten sie kämpfen, denn niemand würde sie, wie früher, einfach so in den Kerker werfen. Ja, die Justiz und eigentlich alle Teile des Systems sind korrupt. Ja, es ist extrem mühsam, doch wenn es keiner macht, wenn niemand kämpft, wird es immer so bleiben.

Hier in Rumänien glaubt man immer noch die Demokratie wird einem gegeben. Sie schauen nach Westen und denken, die dort haben ihre Bürgerrechte, ihre demokratischen Institutionen und ihren Lebensstil einfach so bekommen. Sie wollen es nicht sehen, dass man sich solche Privilegien mit aller Kraft nehmen muss. Und zwar nicht das Recht zu wählen, die Fassade der Demokratie, sondern alles in den feinen, unscheinbaren Schichten darunter. Wie das Recht auf Gewerkschaft und damit dass freie Tage wirklich eingehalten werden und Überstunden ausbezahlt werden. Eine funktionierende Infrastruktur zu besitzen, oder das Recht im richtigen Tempo auf der Straße zu fahren, ohne dafür drangsaliert zu werden und so viel mehr.

Im Westen ist alles sauberer, geordneter und man hält sich an die Gesetze, stellen sie fest. Doch gleichzeitig finden sie nichts dabei, ihren Müll durch’s Autofenster zu entsorgen, oder den Sperrmüll “zur freien Entnahme” auf die Straße zu stellen, oder – schlimmer noch – in Wald und Wiese. Sie nehmen es mit den meisten Vorschriften “nicht so genau”, denn schließlich machen es alle anderen ja auch so und wenn es im Rechtsstaat schief läuft, zuckt man eben mit den Schultern – “man kann ja sowieso nichts machen”.

Nie hätte ich gedacht, dass ich das sage, aber der Spruch “Jedes Volk hat die Regierung die es verdient” stimmt tatsächlich. Wenn man, erstens, als jemand in einer politischen Position oder als Beamter als vorderster und einziges Interesse hat, sich selbst zu bereichern – sich sogar dazu berechtigt und ermächtigt fühlt – wenn man, zweitens, nur aufgrund von Beziehungen in eine Position kommt, ohne entsprechende Qualifikationen zu besitzen – und auch nichts dabei findet – wenn man, drittens, das alles sieht und es toleriert, hinnimmt und sogar wiederholt dieselben Menschen durch Wahlen und sonstige Unterstützung in diese Position ermächtigt – man würde selbst natürlich in solch einer Position wie diesen nichts anders machen – dann wird sich natürlich nie etwas ändern.

Oft habe ich das Gefühl gegen die Wand zu rennen, wenn ich immer wieder sage, man muss gegen Ungerechtigkeiten ankämpfen, auch wenn es mühsam ist, man muss selbst gerecht und richtig handeln, auch wenn man dadurch keinen Vorteil erlangt und es andere nicht so machen – denn nur als Vorbild kann man vielleicht etwas ändern, da man nie das Verhalten anderer beeinflussen kann, nur das eigene. Die Menschen hier lächeln nur desillusioniert und meinen, ich sei eben naiv – ich wäre ja hier nicht in Österreich – das würde ich einfach nicht verstehen. Und vielleicht haben sie Recht – vielleicht ist es hoffnungslos gegen die Mafia anzukämpfen, die hier regiert. Doch wie, frage ich mich, wie wenn nicht so, soll sich je etwas ändern.

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2 Kommentare bei „Ein Mal (weg aus) Rumänien – und zurück“

  1. Schöner Text. Du hast vollkommen Recht!
    Wie wir die Welt retten 🙂

    1. Danke! Ich hoffe es! 😊

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