Das Mysterium der Bücher

Als ich diesen über 1200 seitigen Roman gelesen habe, habe ich ihn seiner fiktionalen Welt gelebt. Es war faszinierend und genussvoll, jedoch fast überwältigend. Es war ein Commitment, wie es auf Englisch heißt, also ein Engagement, sozusagen. Ich konnte da nicht einfach wieder aufhören und aussteigen. Einmal angefangen, lebte ich in diesem Buch.

Ich dachte nachts, nachdem ich es zugeklappt hatte, daran und an die Charaktere, die drinnen vorkamen. Manchmal war ich auch tagsüber abwesend weil ich an die Herausforderungen und Probleme dachte, die für die Figuren im Roman anstanden. Ich merkte ständig wie mein Hirn auch abseits des Lesens mit dieser Geschichte beschäftigt war und ich fing gelegentlich an, mich zu fragen, ob nicht ein Teil von mir in dieser Geschichte lebte. Was würde ich anstelle von X/Y machen?

Ich hatte sogar einige Anflüge, anderen in Gesprächen beiläufig von Ereignissen aus dem Buch zu erzählen, wie wenn es meine eigenen, echten Erfahrungen gewesen wären. Als ich mich dabei ertappte und mir bewusst wurde, wie verrückt das klingen würde, war ich ein bisschen peinlich berührt und kam mir leicht verrückt vor. So zum Beispiel, als mir eine Freundin von ihrem Kleinkind erzählte, der Recht „spät dran war“ mit Krabbeln. Ich wollte ihr fast schon von einem der Kinder aus dem Buch erzählt, dass erst mit 6 fliegen konnte. Im Buch können Menschen fliegen. Sie haben Flügel. Ganz normal.

Deshalb habe ich auch gerade solchen Respekt davor mit dem nächsten Buch dieses Autors zu beginnen. Obwohl ich mich darauf gefreut hatte. Aber wird es mich wieder so hineinsaugen?

Ich habe sogar einige Seiten aus diesem Buch gelesen, doch noch bin ich quasi nicht über dem „Event Horizon“ (Eventhorizont – das ist der Punkt ohne Umkehr im Umkreis eines schwarzen Lochs. Von da an wird man unwiderruflich hinein gesogen). Noch kann ich aufhören.

Es ist fast ein bisschen unheimlich, wenn ich darüber nachdenke. Das ist für mich immer schon so gewesen: es ist unheimlich, sich vorzustellen, wie im Buch diese Welt ständig existiert und man muss sich unweigerlich fragen, ob sie erst in dem Moment in unseren Köpfen zum Leben erwacht, wenn wir die Buchstaben, Wörter und Sätze lesen und diese in unseren Köpfen die Ereignissen und Bilder formen, oder ob sie sie ganze Zeit schon zwischen den Buchdeckeln existiert hat. Manchmal habe ich das Gefühl, alles was je gedacht oder erfunden wurde, jede Geschichte, jede Idee, erwacht irgendwo, wie in einem Paralleluniversum zum Leben. Es ist wie ein Naturgesetze und unvermeidbar, stelle ich mir vor.

Es gibt, ähnlich dieser Idee, die Theorie, die Gelehrte bzw. „Erleuchtete“ vor Tausenden von Jahren bereits aufgestellt haben, dass unsere Realität sich eigentlich erst in unserem Bewusstsein zusammen setzt, dass sie also erst durch unsere Wahrnehmung Wirklichkeit wird und nicht umgekehrt. Inzwischen, so habe ich aus Fernsehen und dem Internet erfahren, ist es sogar durch die Quantenphysik bestätigt (und Albert Einstein hatte auch seinen Beitrag dazu), dass Wahrnehmung bzw Beobachtung Wirklichkeit beeinflusst. Anders ausgedrückt, sind unser Bewusstsein und die Realität untrennbar miteinander verbunden und entstehen jeweils wechselseitig voneinander.

Ich sehe da eine frappierende Parallele zwischen der Entstehung der Wirklichkeit im „Echten Leben“, wie sie Gelehrte und Wissenschaftler erklären, und der „Realität“, die durch das Lesen eines Buches in unserem Bewusstsein Wirklichkeit wird – in gewisser Weise erwachen die Figuren in einem Roman also durch unsere Wahrnehmung zum Leben.

Ich habe mich diesem neuen Buch also noch nicht verpflichtet. Ich habe Ehrfurcht davor.


Wie geht es dir damit, wenn du in einem Roman vertieft bist? Hast du auch dieses Gefühl, hinein gesogen zu werden? Und hast du dir auch schon einmal vorgestellt, wie zwischen den Buchdeckeln eine eigene Welt existiert? Hinterlasse einen Kommentar!

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