Potential an allem

Es ist kühl in Baia Mare, die Bäume haben bereits fast all ihre Blätter verloren und es wird so früh dunkel, dass man das Gefühl hat, man hätte nicht ausreichend Zeit dem Tageslicht zu begegnen.

Nachdem ich nun Tage und Wochen damit Verbracht habe, abwechselnd motiviert, hoffungsfroh und ideenreich auf der einen Seite und dann wieder desillusioniert, von Selbstzweifeln geplagt und mit Ideenlosigkeit und Antriebslosigkeit gestraft zu sein, auf der anderen Seite, bin ich nach einem dunklen Tal wieder auf eine Lichtung gekommen, die da heißt: „Auch andere sind ‚zurück‘ nach Rumänien gegangen und haben – in höherem Alter noch als du und mit ganz anderen Hintergründen, die nicht unbedingt besser waren – noch wunderbare Leben aufbauen können.“

Die Wahrheit ist, ich fühle mich hierher, nach Baia Mare, hingezogen – und ich habe es noch nicht einmal für mich definieren können, warum. Sind es die frühen Kindheitserinnerungen, die mich hierher locken? Eine frühe Prägung, die sich in meinen unterbewussten und unbewussten Hirnarealen versteckt hat und nun die Fäden zieht? Ist es Intuition? Ist es Ratio? Hat es irgendetwas mit Logik zu tun? Sind es wirklich die lockenden „offenen Potentiale“ an „quasi allem“, wie ich es immer nenne? Denn – so habe ich festgestellt – hier ist fast alles neu, was anderswo schon längst etabliert und geradezu „ein alter Hut“ ist. Hier werden diese alten Hüte noch voller Begeisterung aufgesetzt, genauso wie es gefühlt in jeder Straße mindesten zwei Second-Hand-Läden gibt oder „Haine din Import“, wie man sie hier nennt, also Import-Kleidung. Diese Importkleidung ist zwar schon getragen, aber macht nichts. Anfangs dachte ich, diese Angebote wären zwangsläufig, da die meisten Menschen vielleicht nicht so viel Geld für Kleidung zur Verfügung haben – doch ich sollte überrascht feststellen, dass es durchaus auch gut oder durchschnittlich betuchte Menschen gibt, die sich für Stücke aus der Fundgrube begeistern lassen können (auch wenn es sicherlich bei weitem nicht jedermanns Sache ist).

Ich bin also wieder auf der Lichtung des „Ich muss es nur wirklich versuchen und es wird sicher toll werden“ angekommen. Auch das mag für viele unerklärlich sein, warum ich überhaupt glaube, dass es toll werden wird. Was soll an Baia Mare toll sein? Und nachdem ich das Buch „Cum sa fii fericit in Romania“ („Wie man in Rumänien glücklich sein kann“, Titel ist eigene Übersetzung) gelesen habe – endlich – habe ich mich sehr darin wiedergefunden. Ich fühle mich auch oft wie die Protagonistinnen in den autobiografischen Erzählungen, die sich mit den erstaunten, ja geradezu fassungslosen Gesichtern ihrer rumänischen Mitbürger konfrontieren, die sie ungläubig fragen, warum sie aus Paris oder New York ausgerechnet nach Bukarest gekommen sind.  Ich bin in dieser Hinsicht wahrscheinlich noch um ein Eck extremer. Aus Wien nach Baia Mare. Den Übergang packt niemand. WIESO?!, fragen mich alle; Warum nur?! Das Witzige ist, ich kann keine kurze und/oder konkrete Antwort geben, aber vielleicht solltet ihr, die ihr fragt, auch das oben erwähnte Buch lesen, dann versteht ihr vielleicht mehr.

Heute war ich beispielsweise auf der Hauptbibliothek in Baia Mare. Ein lustiges Gebäude, in dessen Fluren und überall, wo es anscheinend nicht wichtig ist, das Licht ausgeschalten bleibt, wodurch das Gebäudeinnere noch verlassener wirkt, als es ohnehin schon ist. Ich hatte neben dem Vorhaben ein, zwei Bücher auszuleihen, auch noch die Idee einen Zettel an’s „Schwarze Brett“ zu hängen und dort Konversations-Stunden auf Deutsch anzubieten. Zwecks – einfach so. Zu meiner Nicht-mehr-Überraschung, aber dennoch Belustigung, musste ich feststellen, das es solch ein „Schwarzes Brett“ nicht gibt. Langsam bin ich es ja schon gewohnt, dass es die selbstverständlichsten Dinge hier nicht gibt, aber dafür welche, die man in anderen Ländern vergebens suchen würde. Vielleicht bin ich auch einfach zu sehr Wien gewohnt, wo in jeder kleinen Supermarkt, geschweige denn in Schulen, Universitäten, und ja, auch auf der Bibliothek solch ein „Brett“ mehr als selbstverständlich ist. Hier kann jedermann und jedefrau alles möglich anbieten. Suchen und Finden – wobei es naturgemäß in intelektuelleren Institutionen eher um Unterrichtsstunden geht, wie Musikstunden, Sprachunterricht und dergleichen. Auch Nachhilfestunden werden oft angeboten, durchaus nicht immer gratis. Hier, in Baia Mare, war weit und breit nichts dergleichen zu sehen. (Erfreulich ist jedoch die Tatsache dass in einem überdachten Bereich vor dem eingang der Bibliothek kostenlos Bücher, die nicht mehr gebraucht werden, abgegeben werden. Dort sind immer ein bis zwei Personen anzutreffen. Wobei ich – apropos kostenlos – auch noch erwähnen will, dass alle Dienste der Bibliothek ebenfalls absolut kostenlos sind. Es gibt nicht einmal eine Mitgliedsgebühr.) Ich, idealistisch, freundlich, motiviert, frage nach, ob es denn so etwas – ein „schwarzes Brett“ – gäbe und erkläre auch den Zweck meiner Suche: Ich möchte Konversations-Stunden auf Deutsch anbieten. Die freundliche Dame an der Rezeption schaut zuerst verdutzt drein, scheint nicht zu verstehen, was ich meine. Ich erkläre es ihr freundlich – dass dies in Wien usus ist und ich daher dachte, so was gäbe es hier auch. Sie denkt kurz nach, fragt noch einmal nach „Wie heißt das?”, fast habe ich das Gefühl die Rädchen in ihrem Kopf klickten leise, dann sagt sie, nein, aber es wäre eine gute Idee. Sie wird diese Anfrage weiter tragen.

In Rumänien herrscht eben Potential an allem. Sag’ ich doch!

Bild: “Monumentul Ostasului Roman” (Das Monument des rumänischen Soldaten) für 1919 gefallene Soldaten. Im “Stadion-Park”

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2 Kommentare bei „Potential an allem“

  1. Find ich toll, dass sie auch gleich über den Tellerrand blickt und Interesse zeigt, ihren Arbeitsplatz zu verbessern!

    1. Ja, finde ich auch! Danke für den Kommentar 🙂

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